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AutorenbildSven Sebastian

Die zunehmende Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens - Mein Standpunkt zum Thema

Laut WHO ist Gesundheit "ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“.

Diese Definition ist mir zu ambitioniert. Wann ist schon mal was „vollständig“ im Leben? Ich halte es da lieber mit dem Philosophen Hans-Georg Gadamer. Er wurde 102 Jahre alt und begreift unsere Gesundheit als Quelle der Lebensfreude: “Gesundheit ist (…) Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig und freudig erfüllt zu sein.“ Wer gesund ist, der folgt seinem Lebensentwurf, ohne diesen weiter zu hinterfragen. Gesundheit ist ein Fundament, auf dem wir uns, je stabiler, desto freier, entdecken und entfalten können.


Entsprechend fürchten wir den Tag, an dem sie uns verlässt. Doch auch hier halte ich es mit einem Philosophen, Blaise Pascal (er lebte Mitte des 17. Jahrhunderts): „Krankheit ist der Ort, wo man lernt.


Unsere persönliche Gesundheit zählt zu einem der wesentlichsten Werte und Ressourcen unseres Daseins. Gesund geboren zu werden ist ein Geschenk, gesund zu bleiben ist eine Lebensaufgabe, für uns alle. Es ist vernünftig, auf sich zu achten. Allein schon, um möglichst lange selbstbestimmt leben zu können. (Und? Wie lange willst du leben? Ich bin mir sicher, solange es eben geht. Besser gesagt, gut geht.)


Schwierig wird es allerdings, wenn Gesundheit zum wichtigsten und dringlichsten Ziel mit dem höchsten Impact für die Gesellschaft hochstilisiert und zur Eintrittskarte in den Club vollwertiger Menschen wird. Wenn die Gesundheitsdiktatur siegt, ist es vorbei mit der ungezügelten Wollust. Anstatt dessen stellen wir uns jeden Tag auf die Körperanalysewaage, legen die Fitnessuhr an, hasten durch den Park, kaufen Gesundheitsratgeber bis zum Abwinken, folgen blind analogen wie digitalen Fitnessgurus, verkneifen uns Kohlenhydrate und flößen uns püriertes Unkraut ein. Igitt!


Stopp der Gesundheitsdiktatur! Schluss mit dem Selbstoptimierungswahn! „In der Begrenztheit liegt das Glück“, lautet ein Sprichwort. Leben ist kostbar, weil es endlich ist. Genießen wir es gemeinsam, in gegenseitiger Rücksicht und Anteilnahme.

Gesundheit ist keine Selbstverständlichkeit, kein natürliches Anrecht, es ist ein Geschenk. Wir sollten es mit Freude auspacken, damit sehr liebevoll, pflegend und dankbar umgehen, vor Gefahren und Risiken präventiv schützen. Und wenn es einmal zu einem drohenden Verlust kommen sollte, warum auch immer, dann ist es gut zu wissen, wer einem fachlich und menschlich kompetent helfen kann. Genau das entspricht dem Auftrag unseres Gesundheitswesens.


Doch dieser beruhigende Zufluchtsort für unsere kranken Seelen und Leiber ist in seinem geistigen und emotionalen Zustand zunehmend selbst bedroht! Die unerbittliche Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens, politisch gewollt und vorangetrieben, macht es allen darin Beteiligten immer unmöglicher, die Patient*innen-Versorgung ihren eigenen Qualitätsansprüchen und des hippokratischen Eids entsprechend auszuführen. Das frustriert und stresst auf Dauer. Kündigungen von Pflegepersonal und medizinischen Fachangestellten aufgrund von psychoemotionaler Erschöpfung oder arbeitsbezogenem Burnout, als letztes Mittel zum Schutze der eigenen Gesundheit, häufen sich. Schlimmer noch, immer mehr Ärzte und Ärztinnen in Krankenhäusern und Universitätskliniken dehnen ihre Arbeitszeit in die Freizeit aus, intensivieren ihre Arbeitszeit mittels einer gesundheitsgefährdenden Steigerung ihres Arbeitstempos oder reduzieren gar erzwungenermaßen die Qualität ihrer Arbeit, um halbwegs mit dem Ökonomisierungs- und damit verbundenen Zeit- und Arbeitsdruck irgendwie klarzukommen[i].

Das macht mir Sorgen. Und das will ich nicht hinnehmen! Ich will in einem Krankenhaus nicht nur fachlich, sondern auch emotional und motivational gut versorgt, betreut und unterstützt werden. Und ich will nicht, wie zum Beispiel meine Mutter (81 Jahre), immer das Gefühl haben müssen, den Ärzten*Ärztinnen und dem Pflegepersonal zusätzlich zu deren Arbeits- und Zeitdruck eine Last zu sein!





Wir müssen ein Auge auf diese fatale Entwicklung haben. Das ist unsere Bürgerpflicht! Die Zeit drängt, denn die Fakten sprechen für sich. So werden die wirtschaftlichen Ziele in Bewerbungsgesprächen auf Chefarzt*Chefärztin-Positionen in Krankenhäusern ein immer wichtigeres Thema. In einer aktuellen Umfrage des Berufsverbands der Deutschen Chirurg*innen gaben knapp die Hälfte (46 Prozent) der 455 befragten Chefärzte*Chefärztinnen an, dass wirtschaftliche Ziele des Arbeitgebers Krankenhaus in Einstellungsgesprächen einen hohen Stellenwert haben.

Dieses Ergebnis ist zunächst nicht verwunderlich. Unser Gesundheitswesen muss, wie jede Institution oder jedes Unternehmen auch, wirtschaftlich vernünftig geführt werden. Ob dies auch immer so im Einzelfall funktioniert wie gewünscht, ist eine andere Frage.

Beim Weiterlesen der Umfrage kam ich aber ins Stutzen. 75 Prozent der befragten Chefärzte*Chefärztinnen in spe berichteten von an sie gestellten Anforderungen, die aus meiner Sicht dem von uns erwünschten humanistischen, ganzheitlichen und interdisziplinären Heilungsgedanken konträr gegenüberstehen. Zu diesen Anforderungen gehören unter anderem die aktive Mitarbeit bei der Unternehmensentwicklung, die gezielte Steigerung von Patientenzahlen oder die Stärkung der Wettbewerbsposition des Unternehmens Krankenhaus. Zusätzlich sahen sich mehr als 40 Prozent im Gespräch mit dem KH-Management knapper Personalressourcen konfrontiert.


Ich arbeite seit über 25 Jahren im Gesundheitssektor. Unzählige Workshops, Trainings und Einzelcoachings in Arztpraxen und Kliniken haben mir gezeigt: für eine gute, zufriedenstellende und menschliche Betreuung von Kranken und Erschöpften braucht es vor allem vier wesentliche Ressourcen: Fachliche Kompetenz, Zeit für persönliche Gespräche, Konzentration auf den Einzelnen, Freude am Tun. Und eine ausreichende Personaldecke.

Eine Pflege unter Zeit- und Arbeitsdruck, hohen psychoemotionalen Belastungen und finanziellen Engpässen ist keine gute. Wenn es uns gesundheitlich „dreckig“ geht, suchen wir alle nach Zuwendung, Wärme, Verständnis, fachlicher und menschlicher Kompetenz. Weil wir neurobiologische, soziale Systeme sind. So lange wir noch keine Maschine-Mensch-Konnektoren in unseren Gehirnen tragen (Stichwort: Transhumanismus), wird das auch so bleiben.


Sicher, überall dort, wo Menschen über vier Generationen hinweg zusammenarbeiten und aufeinander angewiesen sind, gibt es immer Möglichkeiten der Verbesserung. Vor allem im Bereich des Selbst- und Zeitmanagements, der Selbstfürsorge, Selbstreflexion (meta-skills), Kommunikation und Interaktion (soft-skills), der Stress-Resilienz und des Konfliktmanagements. Eine vernünftige Einnahmen- und Ausgabenkontrolle (Controlling) ist ebenfalls für jede Unternehmung essenziell, um im Wettbewerb dauerhaft bestehen zu können. Dagegen gibt es grundsätzlich nichts zu sagen. Wirtschaftliche Ziele im Sinne eines nachhaltigen Krankenhausmanagements gemeinsam mit der Geschäftsführung zu definieren, sollte durchaus eine wesentliche Aufgabe von Chefärzten*Chefärztinnen in Krankenhäusern sein.

Was mich jedoch als Mensch und zukünftigen Patienten beunruhigt, sind die folgenden Aussagen der Studie: Jeder Dritte der Befragten fühlte sich durch die wirtschaftlichen Anforderungen im Stellenprofil nicht unter Druck gesetzt. Nur jeder Fünfte gab an, eine psychoemotionale Belastung durch die ökonomischen Ziele zu verspüren.


Was bedeutet das im Klartext? Auf der einen Seite sucht heute ein Krankenhaus offensichtlich Chefärzte*Chefärztinnen (Führungskräfte), die nicht nur betriebswirtschaftlich denken und handeln, sondern die auch die Zumutung aushalten müssen, mit äußerst knapp kalkuliertem Personal und Material zu arbeiten. Unter diesen Rahmenbedingungen ist Stress, Burnout, Erschöpfung und Depression vorausprogrammiert. Besser gesagt: Das psychoemotionale Ausbrennen von Chefärzten*Chefärztinnen in Krankenhäusern wird von den Verantwortlichen bereits bei der Einstellung dieser, also von Anfang an, mit „eingepreist“. Chefärzte*Chefärztinnen und ihre Teams werden so zu „Kanonenfutter“ für die zunehmende Ökonomisierung unseres Gesundheitssystems.

Gut, damit könnten wir vielleicht noch leben. Schließlich gibt es exzellente Trainings für Führungskräfte in Krankenhäusern, die zu einer Stärkung der eigenen Stress-Resilienz führen.


Was mich allerdings wirklich beunruhigt: Der ökonomische Druck und die personelle Unterbesetzung scheinen den zukünftigen Chefärzten*Chefärztinnen (vorrangig Generation X, manchmal Generation Y) moralisch, ethisch, menschlich nicht viel auszumachen. Im Gegenteil, 70 Prozent der Aspiranten sahen gar Chancen, das Gewichten von Ökonomie und medizinethischen Erwägungen in ihrer späteren Abteilung durch das eigene Verhalten beeinflussen zu können.


Für mich ist dieses Ergebnis der Studie ein weiteres Indiz dafür, dass die Krankenhausmedizin systemisch-strukturell immer weiter unter die Herrschaft kaufmännischer und wettbewerblicher Prämissen gerät. Und scheinbar hat dies auch schon Auswirkungen auf die neurobiologische Funktionalität und Struktur so mancher Führungsgehirne im Krankenhausbereich! Die damit verbundenen Denkmuster und Einstellungen könnten zu einem „ökonomisierten und wirtschaftlichen“ Entscheiden und Verhalten führen, welches keineswegs einer humanistischen, systemischen und konstruktivistischen Haltung entspricht. Wollen wir das wirklich? Also, ich nicht.


Was sind die Lösungen?


1. Wir müssen darüber im offenen, wissenschaftlich fundierten, erfahrungs- und zukunftsorientierten Diskurs bleiben. Also: Lasst uns diskutieren! Wie stehst du persönlich zum Thema „Ökonomisierung des Gesundheitswesens“?


2. Wir sollten uns genau überlegen, wem wir gesundheitspolitisch unsere Stimme geben.


3. Wenn es eine sinnvolle, hilfreiche, in ihrer Auswirkung überschaubare Kampagne oder Befragung in Richtung „Wie wollen wir in der Zukunft geheilt und gepflegt werden?“ gibt, dann sollten wir unser Mitbestimmungsrecht nutzen und uns beteiligen.


4. Wir sollten uns so intensiv wie möglich gegenseitig beistehen, für uns da sein, wenn wir erschöpft, krank, müde, verängstigt oder resigniert sind. In diesem Bereich kann jeder von uns sicher noch ein bisschen mehr tun. Ich zum Beispiel begleite in jedem Jahr ehrenamtlich ca. 10 Klient*i


nnen, die seelisch und psychoemotional verzweifelt sind, in finanziellen prekären Verhältnissen leben und kurzfristig dringend Hilfe benötigen. Das ist mein privater kleiner Beitrag zum humanistischen Frieden in unserem Lande.


5. Wir sollten uns gegenseitig im Bereich der Selbstfürsorge, Selbstberuhigung, Stress-Widerstandskraft und Konfliktfähigkeit unterstützen und motivieren. Genau dafür schreibe ich meine Newsletter und meinen Blog mit Tipps und Tricks für ein aktives, erfülltes und gesundes Leben. Ich freue mich, wenn dieser gefällt und von so vielen wie möglich gelesen wird.



------------------------------- [i] Im September 2019 wurden 2060 Ärztinnen und Ärzte im Auftrag des Marburger Bundes Landesverband Berlin/Brandenburg zu ihren Arbeitsbedingungen (Belastungen und Ressourcen), ihrem Stressbewältigungsverhalten sowie ihrer psychischen Gesundheit befragt. Ziel der Befragung war es, ein Bild der aktuellen Arbeits- und Gesundheitssituation der Ärztinnen und Ärzte zu erhalten.

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